Agogik

Die Agogik – also das individuelle Verzögern und Beschleunigen des Tempos – ist jener Bereich in der Musik, den man allgemein der Interpretation zuordnet. In Interviews mit Musiker*innen der Sächsischen Staatskapelle Dresden, die zum spezifischen Klang ihres Orchesters befragt wurden, ist er dennoch wiederholt als Parameter der Klangbeschreibung aufgetreten. Die vorliegende Untersuchung möchte diesem Aspekt nachgehen und objektivieren, dabei stellt sich die Frage, inwiefern Agogik auf den Klang Einfluss nimmt und als Charakteristikum eines Orchesterklanges auszumachen ist.

 

 

 

Agogische Devianz als Klangcharakteristikum der Sächsischen Staatskapelle?

Die Klangcharakteristik eines Orchesters wird wesentlich durch das Zusammenspiel beeinflusst. So bestimmen u.a. die Einschwingvorgänge und die Klangbalance und -substanz in den Stimmgruppen das Klangbild. Verglichen zur singulären Schallquelle ist die Klangentfaltung dabei auf die Abstimmung
im Orchester angewiesen. Dass das Wissen, bzw. die Erfahrung im Orchesterkollektiv um die Entfaltung eines Klanges wohlmöglich über stationäre Zusammenklänge hinausgeht, versucht die hier vorgestellte Studie aufzuzeigen.

In Interviews mit Musikerinnen und Musikern der sächsischen Staatskapelle Dresden taucht wiederholt die Annahme auf, der Dresdner Klang sei ein Resultat kollektiv identischen Fühlens von Phrasierung in Lockerungen und Überdehnungen im Kontext eines bestimmten Repertoires, die spezifische Agogik des Orchesters damit ein Klangcharakteristikum. Eine folgenreiche Annahme: einerseits würde hierbei der Aspekt – Klang - auf den Bereich der Interpretation erweitert, andererseits die Einflussstärke des Dirigenten – als Interpreten – auf den Gesamtklang nivelliert.

Wir fragen, ist diese Beobachtung der Spezifität des Dresdner Klangs und deren Klangentstehung objektivierbar, damit messbar und vergleichbar?
Verfügt die Staatskapelle Dresden tatsächlich über eine auffallend ausgedehnte Agogik, die als kontinuierliches Merkmal ihres Klanges herausragt?

Ein stichprobenartiger Orchestervergleich will sich dieser Fragestellung widmen.
Dabei soll die Agogik durch Zeitmessungen in Tonaufnahmen abgebildet-, Konstanten in der Agogik innerhalb der Orchesterhistorie feststellt-,
Unterschiede und Alleinstellungsmerkmale über Vergleiche zu anderen Orchestern hergestellt werden.

Das geeignete Messwerkzeug hierfür ist die Software Sonic Visualiser (Queen Mary University of London). Sie ermöglicht eine präzise Zeitmessung durch Verlangsamung des Tempos bei gleichzeitiger Visualisierung des Sonogramms. Die Messpunkte werden manuell gesetzt.

Zunächst gilt es, eine einheitliche Bezugsgröße festzulegen, denn selbstredend unterscheiden sich die zu untersuchenden Einspielungen in ihrem Grundtempo und damit in ihrer Gesamtlänge. Verschiedene fein- oder grobmaschigere Partitionen sind hier denkbar. Ein mögliches Raster ergibt sich durch die Berechnung der mathematisch idealen Taktlänge im Verhältnis zur Gesamtlänge einer Passage. Dieser hypothetische, äquidistante Wert, bildet dabei jene maschinell exakte Taktdauer ab, die jegliche agogische Nuancierung suspendieren würde. Zu diesem Quotienten bilden die tatsächlich gemessenen Werte nun eben jene Differenzen, die als Abweichungen vom mathematischen Ideal taktweise in Sekunden bestimmt und zu Vergleichszwecken im Hinblick auf die verschiedenen Einspielungen sodann in Prozent ausgedrückt werden können. Die Spannweite dieser Abweichungen lässt sich nunmehr als „agogische Devianz“ begreifen und ist folglich ein Maß, das angibt, wie viel Spielraum sich ein Orchester bei der Ausgestaltung der zeitlichen Binnenstruktur nimmt. Ein Durchschnitt der agogischen Devianzen ergibt sich schließlich als Mittelwert entweder aller positiven oder aber aller negativen prozentualen Abweichungen, denn beide Mittelwerte werden zwangsläufig denselben Betrag aufweisen.

Die Veranschaulichungen sind einem Vorversuch entnommen, welchen umfängliche Messungen und statistische Auswertungen in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Dresden folgen werden und somit die eigentliche Studie bilden.


Computergestützte Analysemethoden

Philipp Martin und Moritz Oczko sprechen im Video über ihre Untersuchungen zur Agogik der Sächsischen Staatskapelle Dresden: